Karner

Schon seit vielen Jahren war bekannt, dass unter der Michaelskapelle ein im dörflichen Sprachgebrauch genannter „Knochenkeller“ existierte, ein Karner. So war es früher unter den jungen Burschen durchaus üblich, in diesen Keller durch ein Loch am nördlichen Ende einzukriechen. Als Mutproben wurden hin und wieder auch Knochen oder Knochenteile nach aussen verbracht. Nach eingehender Begutachtung wurden diese Knochen allerdings bald wieder in den Keller geworfen.

Man wusste durch Erzählungen, dass es früher üblich war, bei der Neubelegung von Gräbern die Knochen der in diesen Gräbern vorher bestatteten Toten aus den ausgeräumten Gräbern zu entnehmen und in dem „Knochenkeller“ zu deponieren. Dies war vor allem deshalb notwendig, um den Platz des Friedhofes immer wieder nutzen zu können, ohne neue Friedhofsflächen im Ort ausweisen zu müssen. Hinzu kam, dass es früher üblich war, Bestattungen möglichst in der direkten Nähe um die Kirche durchzuführen.

Der Brauch der Verbringung der Knochen in einen eigenen Zweitbestattungsraum ist dann irgendwann eingeschlafen. Dies führte zum allmählichen Vergessen von Brauch und Ort der Knochenaufbewahrung. Es ist heute nicht mehr genau nachzuvollziehen, wann die letzten Knochen in den Karner gebracht wurden, man vermutet aber, dass die letzten Knochenüberführungen in den Karner irgendwo im 19 Jahrhundert stattgefunden haben. Teilweise wurden aber noch Knochen bis zum Ende der Nutzung des Friedhofes an der Kirche um 1960 in die Öffnung des Keller hineingeworfen.


Nach den Untersuchungen neu geschichtete Knochen

Schnitt von Kapelle und Karner nach einem Vortrag (2012) von Prof. Klaus Nohlen – Zeichnung Klaus Nohlen (* 1945) – deutscher Bauforscher und Bauhistoriker.

Karnergewölbe mit Schalung aus Knüppelholz

Während Renovierungsarbeiten an der Michaelskapelle im Jahre 2010 erinnerte man sich des Knochenkellers und begann, diesen Keller, das Beinhaus, wissenschaftlich zu untersuchen.

Man stellte schnell fest, dass es sich bei diesem Beinhaus, auch Karner oder wissenschaftlich Ossuarium genannt, um ein älteres Bauwerk als z.B. die Michaelskapelle mit Karner in Limburg handelte.

Die bauarchäologischen Untersuchungen wurden geleitet von Martino La Torre. Angestoßen wurde die Untersuchung u.a. von Prof. Dr. K. Löffelholz, der auch schon als Student bei den archäologischen Untersuchungen und Grabungen zwischen 1955/57 aktiv beteiligt war.

Die Kellerfüllung lag bis auf der Höhe des oberen Türrandes der jetzigen Eingangstür. Der Keller wurde in monatelanger Arbeit komplett ausgeräumt. In dem ausgeräumten Material wurden neben vielen Knochen auch Steinzeugscherben und Porzellan gefunden. Die Nutzung des Karners liess sich damit bis in etwa in das 19. Jhdt. nachweisen. Laut Archivunterlagen des Diözesanarchives soll das Untergewölbe auch kurz danach nicht mehr zugänglich gewesen sein (Siehe auch Hessenarchäologie, 2011, La Torre, Bauarchäologische Untersuchungen des Karners der Michaelskapelle an der St. Lubentiuskirche in Dietkirchen-Ein Arbeitsbericht).

An der Südwand des Karners hat man eine Knochenwand aus Schädeln und anderen Knochen im Original belassen. Diese Mauer hat die Maße: 2,60 meter Länge – 1,40 Meter Höhe und eine Stärke von 1 Meter. Da es sich hierbei um einen extrem seltenen Fund einer Originalschichtung von Knochenmaterial handelt, soll sie im Original verbleiben und nur für lokal durchzuführende Untersuchungen zur Verfügung stehen.


Originalknochenwand aus Schädeln und anderen Knochen

Aufgrund des gefunden Materials lässt sich eine Nutzung des Karners von ca. 1475 bis zum Anfang des 19. Jhdt. vermuten.

Das besondere an dem Karner in Dietkirchen ist, dass er nicht in den letzten Jahrhunderten ausgeräumt und neu mit Knochen verfüllt wurde, sondern in seinem Originalzustand von der Erstnutzung bis zum Ende der Nutzungsdauer verblieben ist.

Man stellte bei den baulichen Untersuchungen der Gruft fest, dass es sich hierbei um einen mit einem Tonnengewölbe überdeckten etwa 5 Meter hohen Keller handelt. Das Deckengewölbe wurde aus Bruchsteinen über einer Schalung aus Knüppelholz ermauert. Die baulichen Untersuchungen lassen vermuten, dass der eigentliche Boden noch wesentlich weiter nach unten reicht.

Aus dem Schnittbild von Kapelle und Karner erkennt man, dass die Außenmauer sehr tief den Felsen in Richtung Lahn hinunterreicht. Weitere Untersuchungen in der Zukunft könnten sicherlich weitere interessante Details zu Tage bringen.

Bei den Arbeiten wurde ausserdem vor dem EIngang zum Karner in ca. 4 Meter Tiefe ein Skelett entdeckt, das der karolingischen Zeit (8.-9. Jhdt) zugeordnet werden konnte, also über 1000 Jahre alt ist.

Etwa 15 Zentimeter oberhab dieses Skelettes fand man die Reste eines weiteren Verstorbenen. Dieses Skelett war allerdings nicht mehr vollständig vorhanden.

Bei dem in 4 Meter Tiefe gefundenen Skelett handelt es sich um das komplett erhaltene Skelett eines ca. 1.80 Meter großen Mannes. Die wissenschaftlichen Untersuchungen konnten einiges zum Gesundheitszustand des Mannes erforschen. So ist er wohl relativ alt geworden. An Krankheiten litt er unter Blasensteinen. Weiterhin hatte er einen verheilten Oberarmbruch. Er muss aufgrund zweier ineinander gewachsener Rückenwirbel wohl durch starke Rückenschmerzen geplagt worden sein. Eine stark mit Gicht befallene Hand lässt wohl auf eine wohlhabende Gesamtsituation und eine gute Ernährung schließen.

Man vermutet, dass es sich bei diesem vollständigen Skelett ggf. um einen geistlichen oder aber auch einen weltlichen Würdenträger handeln könnte, da nur solche Menschen üblicherweise die Erlaubnis bekamen, in oder an Kirchen bestattet zu werden.  Normale Menschen wurden auf allgemeinen Friedhöfen beerdigt.

Bei der Person des unvollständig gefundenen Skeletts wird ein Amtsnachfolger oder Verwandter des in der tiefern Schicht gefundenen vollständigen Skeletts vermutet.


Originalfundfoto des Skelettes

Helle Rahmensteine deuten den Fundort des Skelettes an

Die Knochen wurden in etwa 120 Umzugskarton in das Anthropologische Institut der Universität Gießen zur weiteren Untersuchung verbracht. Dort wurden alle 736 Schädelknochen (bzw. deren Fragmente) und alle 720 Oberschenkelknochen wissenschaftlich rechtsmedizinisch untersucht. Eine besondere Rolle spielte dabei Frau Dr. Franziska Holz, die ihre Dissertation mit dem Titel „Forensisch-anthropologische Untersuchungen am Karnerkollektiv der Michaelskapelle in Limburg-Dietkirchen mit dem Schwerpunkt Schädeltraumata“ 2015 erstellte und damit ihren Doktortitel erlangte.

Für die Untersuchung der Knochen war eigens von der Universität in Giessen eine Scheune in Wettenberg angemietet worde, die für die Dauer der Untersuchungen sozusagen als Lager- und Untersuhungsstätte verfügbar war.

Ihre Untersuchungen der Schädelknochen ergaben, dass 52% der Verstorbenen männlich waren, 31% weiblich und 8% indifferent. Alle nicht eindeutig als Erwachsenenschädel zu klassifizierende Schädel wurden in eine Gruppierung Kinder und Jugendliche zusammengefasst, die mit 9% ermittelt wurde. Bei der Bestimmung des Sterbealters ermittelte sie, dass jeder Zehnte, also 10,7% vor dem Erreichen des 21 Lebensjahres starb. 25,8% starben zwischen dem 21. und dem 40. Lebensjahr. 33,7% starben zwischen dem 41. und dem 60. Lebensjahr. 20,6% erreichten ein Alter üb er 60 Jahren. Bei 9,2% war es nicht möglich, ein Sterbealter zu ermitteln.

Ermittelt wurde, dass ca. 37,4% der Frauen im Alter von 20 bis ca. 40 Jahren verstarb. In der gleichen Alterklasse verstarben nur 24,2% der Männer. Die Vermutung liegt damit nahe, dass die Ursache der vermehrten Sterblichkeiten der Frauen die Folgen von Schwangerschaften und Geburten war.

Berechnungen ergaben folgende Körpergrößen. Der kleinste Mann hatte eine Größe von 153,9 cm +/- 3,3 cm, der größte war 183,4 cm +/- 3,3 cm groß. Die männliche Durchschnittskörpergröße lag bei 166,0 cm +/- 3,3cm.

Die durchschnittliche Körpergröße bei den Frauen lag bei 152,9 cm +/- 3,3 cm. Die kleinste Frau war 143,5 cm +/- 3,3 cm, die größte Frau war 165,8 cm +/- 3,3 cm.

Es wurde auch festgestellt, dasss sehr viele Schädel perimortale Verletzungen hatten, also Verletzungen, die direkt während des Todeszeitpunktes entstanden. 2 Drittel dieser Verletzungen waren durch stumpfe Gewalteinwirkung (Stein, Keule, Werkzeug oder Flächen) entstanden, ein Drittel entstand durch punktuelle Gewalt, also mit großer Wahrscheinlichkeit durch Geschoße, Lanzen, Pfeile oder Speere o.ä. Es wurden an einigen Schädeln ebenfalls Verletzungen durch Schwert, Messer, Axt oder Beil festgestellt.

Es wurde nachgewiesen, dass 65% aller perimortalen Schädelverletzungen mit großer Sicherheit das Ergebnis von Gewaltkonflikten direkt Person gegen Person war.

Auch die Zähne der Schädel wurden genauen Untersuchungen unterzogen. So stellte man bei 28,5% aller untersuchten Zähne Zahnkaries fest.


Wer wird dieser Mensch gewesen sein?

Nachdem die Untersuchungen abgeschlossen waren, wurden die Schädel und Knochen komplett wieder nach Dietkirchen verbracht.

Hier wurden sie im inzwischen hergerichteten Karner in einer Seitennische und unterhalb des neu geschaffenen Besucherpodestes durch Fr. Dr. Franziska Holz und Herrn Dr. Gabriel Hefele (früherer Leiter des Diözesanmuseums und Kunsthistoriker) neu und sehr pietätvoll aufgeschichtet.


Memento mori!

Sauber neu geschichtete Schädel und Knochen

Der Lichteinfall durch ein Fenster wurde offengelassen

Bei den Räumarbeiten im Karner war unter anderem auch dieser Gedenkstein gefunden worden.

Seine Inschrift lautet:

1724 den 29. Feb:
Hat der Ehrsamme Fridrich
Burggraff und Christina ehele(.)
sendschöffen zu dehrn diesen (..)rabstein
vor sich und die seinige zu ehren der
Allerheiligsten dreÿfaltigkeit hirher
auffrichten lassen, requiescant in
Pace. Amen.


Grabstein von 1724

Quellen:

  • Hessenarchäologie, 2016, Franziska Holz, Christoph G. Birngruber, Martino La Torre, Marcel A. Verhoff, Das Beinhaus der ehemaligen Stiftskirche St. Lubentius in Dietkirchen
  • Hessenarchäologie, 2016, Franziska Holz, Christoph G. Birngruber, Marcel A. Verhoff, Auf den Zahn gefühlt – odontologische Untersuchungen an Schädeln des Beinhauses von St. Lubentius
  • Vortrag von Prof. Klaus Nohlen in 2012

Bilder
© Ludwig Ries